Texte

Inhalt:

– Fragen zum Zazen
Zen und Alltag
Brief an die Ichi-An-Übungsgemeinschaft
Wie meditieren?
Warum meditieren?
Leserbrief zum Thema „Demokratisierung im Buddhismus“
– Was bedeutet für mich „Zuflucht nehmen
Zazen und Textstudium
Was ist Zen?

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Fragen zur Zazen-Praxis

  • Soll man sich, wenn ständig die Gedanken abschweifen, auf einen Gegenstand, eine Farbe oder auf sonst etwas konzentrieren, um dem Denken Einhalt zu gebieten?

Dass Gedanken kommen beim Zazen, ist erst einmal normal. Unser Gehirn ist nun mal darauf eingestellt zu denken, das ist ja seine Aufgabe. Beim Zazen sollen Gedanken nicht unterdrückt werden, sondern festgestellt werden (Ah, jetzt denke ich an Person X…). Ich ärgere mich nicht, dass ein Gedanke gekommen ist, sondern verfolge ihn nicht weiter! Ein oft zitiertes Bild: wie Wolken vorbeiziehen lassen. Wenn ich doch meine Geschichte zu Person X ein paar Minuten weitergedacht habe, so stelle ich das wiederum fest, ärgere mich nicht und konzentriere mich wieder auf den Atem. Immer mal spüre ich in den ganzen Körper hinein: Sitze ich gerade, ist etwas verspannt, usw. Sich auf den Atem zu konzentrieren, ist die Aufgabe beim Zazen. Deshalb brauchen wir kein dingliches oder geistiges Objekt, auf das wir unsere Konzentration richten. Die Zazen-Übung ist sehr einfach, aber nicht leicht.

  • Ich suche nach einem Ziel. Kann man sagen, dass die Leere ein Ziel ist?

Was ist die Leere oder Leerheit? Üblicherweise verwenden wir das Wort „leer“ als Gegenbegriff zu voll. Wir sagen: Die Tasse ist leer. Aber: Die Tasse selbst ist leer! „Leer“ bedeutet abhängig entstanden. Alles ist abhängig entstanden. Die Tasse ist abhängig vom Ton, vom Wasser, von der Hand der Töpferin, vom Brennofen entstanden. Und: Die Tasse wird keinen Bestand haben, sie zerfällt irgendwann wieder in ihre Bestandteile. Alles hat keinen Bestand: die Dinge, unsere Gefühle, Wertvorstellungen, und alles ist abhängig entstanden. Meine Freude, meine Wut, sie sind abhängig entstanden und vergehen. So sagt man: Alle Dinge, Gefühle usw. sind leer, sie sind ohne Substanz! Sie sind nichts Festes. Erwachte Menschen, die die Tiefe der Bedeutung von Leerheit verstehen, können die Allverbundenheit der Welt „sehen“. Deshalb sehen sie, dass die Obdachlose ihr und mein Bruder und der Reiche meine Schwester ist.

Kann also die Leere ein „Ziel“ sein? Im Shinjinmei (alter Zen-Text aus dem 5. Jh) heißt es: „Jage nicht den Erscheinungen nach, und verweile nicht in der Vorstellung von Leere“.

  • Wenn ich wütend oder aufgewühlt bin, wie kann ich da ohne Denken sitzen?

Wenn man wütend ist, ist es gut, dies zu spüren, zu akzeptieren und nicht zu verdrängen. Aber die Gedanken kreisen oder rasen, ich suche die Ursache, meist beim anderen, verliere das klare Denken. Das Zazen hilft, langsam zur Ruhe zu kommen: Die Wut spüren-dem Atem folgen-die Wut spüren-dem Atem folgen-Wut-Atem-Wut-Atem-Atem-Atem. Schwierig (für mich selber) ist es jedoch, den Weg zum Kissen zu finden in der Wut, in der Niedergeschlagenheit. Aber gibt es einen anderen Weg, wieder zu innerem Frieden zu kommen?

  • Wie soll ich mit Schmerzen umgehen?

Schmerzen beim Zazen sollen ausgehalten werden. Allerdings nur, wenn es sich um Dehnungsschmerzen handelt; stechende Schmerzen, spürbar „ungute“ Schmerzen nicht ignorieren. Schmerzen durch Verspannungen z.B. im Nacken könnten von einer falschen Sitzhaltung herrühren, wenn sie nicht mental bedingt sind. Um Verspannungen muss man sich kümmern. Die Sitzhaltung ändern oder mit dem Geist in die Körperpartie hineingehen und spüren.

Warum soll man Schmerzen aushalten? Sie sind ein gutes Mittel, von überflüssigen Gedanken wegzukommen. Irgendwann bin ich ganz der Schmerz, und da kann es passieren, dass er urplötzlich verschwindet. Nebenbei: Dehnungsschmerzen tragen – neben den Körperübungen – dazu bei, elastischer zu werden und im Lotussitz sitzen zu können.

  • Soll man in seine Gefühle „reingehen“ und sie als Realität akzeptieren? Denke ich dann da nicht auch?

Alles, was da ist, akzeptieren, dass es da ist (was nicht heißt: gutheißen!). So könnten wir unser Leben führen. Beim Zazen werden die Gefühle, Empfindungen gelassen wahrgenommen, nicht bewertet und wieder freundlich gehen gelassen (das Wolkenbild!). Das ist ein anderes Denken als das, was wir aktiv erzeugen, wenn wir Träumereien nachhängen oder wenn wir den Alltag bewältigen.

  • Hat das Sitzen überhaupt einen Nutzen, wenn man etwas falsch macht?

Was kann man falsch machen? Man kann falsch sitzen, falsche Erwartungen und eine falsche Motivation haben. Wie man richtig sitzt, kann man sich zeigen lassen oder lesen. Schwieriger ist es, mit Erwartungen umzugehen. Natürlich erwarten wir innere Ruhe, Gelassenheit, klares Denken, wir erwarten einen Nutzen, wenn wir uns schon so anstrengen. Wie passt da der Ausspruch des großen Meisters Kodo Sawaki ins Bild: „Zazen ist zu nichts nutze!“ Was meint er denn? Vielleicht dieses: Wir sollen Zazen um des Zazen willen üben. Es gibt keinen messbaren Nutzen, klares Denken ist nicht quantifizierbar, der Nutzen kommt ganz von selber, lässt sich aber nicht rufen und drängen. Wenn wir Zazen nur wegen eines Nutzens praktizieren wollen, um besser als die andern zu werden, dass meine Geschäfte besser laufen, so ist das nicht die richtige geistige Haltung. Wir praktizieren um der Praxis willen. Vergessen wir den Nutzen, bemühen wir uns nur um ein aufrichtiges Leben und um Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber. Dieser Nutzen ist ohne „Nutzen“. Dann ist unser ganzes Leben eine einzige Periode Zazen, wie Nakagawa Roshi einmal bemerkte. Wir führen ein friedvolles Leben in Freude und im Mitgefühl für die anderen Lebewesen.

  • Was bedeutet „geistige Wachheit“ beim Sitzen?

„Wach sein“ bedeutet: Gewahrsein, was jetzt gerade ist. Jetzt fährt ein Auto vorbei, jetzt denke ich an mein Kind, jetzt braucht mein Nachbar ein Taschentuch, jetzt spüre ich eine Verspannung im Rücken. Idealerweise sind wir im Alltag ebenso wach wie beim Zazen, und dazu braucht man die Zazen-Übung.

Beim Zazen denke ich aber nicht dieses Auto (z.B. das ist zu schnell gefahren), ich denke keine Geschichte zu meinem Kind, ich finde mich nicht toll, dass ich ihm ein Taschentuch reiche, und ich ärgere mich nicht, dass da schon wieder die Verspannung kommt, ich reagiere nur, in natürlicher Weise. Im Hier und Jetzt gewahr sein, gewahr sein, gewahr sein.
Ichido, 1.8.23

Zen und Alltag

„Wenn wir unseren Kopf gut kennen und ebenso die Emotionen, die unser Denken hervorbringt, können wir besser sehen, wie es um unser Leben steht und was getan werden muss; das ist meistens das Nächstliegende. Im Zen geht es um das Handeln, nicht um ein passives Leben des Nichtstuns. Doch unser Handeln muss sich auf die Realität gründen. Wenn unser Handeln sich auf unser falsches Gedankensystem (das auf unserer Konditionierung basiert) gründet, so ist es nicht auf festen Boden gebaut. Haben wir die Gedankensysteme einmal durchschaut, können wir erkennen, was getan werden muss.“

Aus: Charlotte Joko Beck (1917-2011): Zen im Alltag. 1990. S. 56 f.

Der Zenschüler Baso Doitsu (709–788) saß ohne Unterlass den langen Tag im Zazen. Sein Lehrer Nangaku fragte ihn: Was machst du da?
Baso antwortete: Ich möchte ein Buddha werden.
Da hob Nangaku einen Ziegel auf und fing an, ihn zu polieren. Nach einiger Zeit fragte Baso: Warum polierst du einen Ziegel, welchen Sinn soll das haben?
Nagaku antwortete: Ich möchte einen Spiegel daraus machen.
Baso: Wie kann man denn aus einem Ziegel einen Spiegel machen!
Nagaku: Genauso wenig, wie ich einen Spiegel machen kann, kannst du mit deinem Zazen ein Buddha werden!

Frei nach einer Zen-Anekdote

„Vers 9:
Jage nicht den Erscheinungen nach,
und verweile nicht in der Vorstellung von Leere.“

„Vers 14:
Die Erscheinungen verbannen bedeutet
das Zunichtewerden der Erscheinungen;
sich der Leere hingeben
heißt der Leere widersprechen“

Aus: Meister Sosan (gest. 606): Shinjinmei. Übersetzung Ursula Jarand

Vers 9 des Shinjinmei (einer der ältesten Zen-Texte) mahnt uns, nicht den Erscheinungen nachzujagen. Was ist gemeint? „Erscheinungen“ umfasst alles, was uns im Leben begegnet, Dinge, Emotionen, Gedanken. „Nachjagen“ bedeutet, diesen Erscheinungen Priorität zu geben, ja, unser Leben ausschließlich innerhalb dieser Erscheinungen zu vollziehen.
In unserem Leben sollen wir auch unsere Spiritualität entwickeln, dies ist unsere große Aufgabe, mit der wir das Geschenk, unser Leben, würdigen und erfüllen. Dabei jedoch nur sich der Übung (z.B. des Zazen) hinzugeben, den Alltag auszublenden und gering zu schätzen, wie das Baso (in der Anekdote) zunächst tut, ist nicht der Weg. Das betonen alle Meister und Meisterinnen immer wieder. Das meint auch Meister Sosan mit „verweile nicht in der Vorstellung der Leere“. Diesen Sachverhalt betont Sosan noch einmal in Vers 14.

Es ist ein billiger Weg, sich in die Übung zurückzuziehen, nur, um den Problemen, die der Alltag für uns bereit zuhalten pflegt, zu entkommen. Zur Übung gehört gerade, sich den Problemen zu stellen und zu versuchen, diese aufzulösen. Genau dazu brauchen wir die Übung. Unsere spirituelle Entwicklung dient dazu, immer deutlicher zu sehen, was zu tun ist, was ich tun soll und muss und kann. Praktiziere Zazen und tue das, was gerade getan werden soll.

„Unseren Kopf gut kennen und ebenso die Emotionen“, wie die amerikanische Zen-Lehrerin Joko Beck schreibt, diese Fähigkeiten entwickeln wir durch die meditative Übung. Sie führt zur Wachheit und Wahrnehmungsfähigkeit: Was geschieht gerade, in mir, im anderen, im Jetzt und Hier? Dann „können wir erkennen, was getan werden muss“. Der Zen-Weg findet im Alltag statt!

Zenmeister Dogen Zenji (1200-1253) predigte seinen Mönchen: „In jeder Situation muss bedacht werden, was das Beste für den Buddha-WEG und zum Wohle anderer ist. Vergesst euren persönlichen Vorteil und seid nicht auf euren Ruf bedacht.“ (Shobogenzo Zuimonki, I 20).

Zazen zu praktizieren, um Erleuchtung zu erlangen, ist nicht der WEG. Wir üben Zazen, um Raum für unsere spirituelle Entwicklung zu geben. Wozu? Um ein Leben zu führen, das wir uns selbst und den anderen Lebewesen weihen. Den Weg des Bodhisattva zu gehen. Dies ist auch das höchste Glück für uns.

Shantideva, der große buddhistisch-indische Meister, soll gesagt haben: Unglücklich sind jene, die nur nach ihrem eigenen Glück streben; glücklich sind die, die nach dem Glück der anderen streben.

                                                                   Ichido, 3.9.21

Mühldorf, Ichi-An, am 24.1.2021

wir haben uns lange nicht persönlich gesehen, dennoch fühle ich mich euch wie sonst auch verbunden. Besonders an den Donnerstagen haben wir, mehr oder weniger, gemeinsam jeder und jede für sich an seinem und ihrem Platz geübt. Vielleicht habt ihr zuvor die Worte von Meistern oder Meisterinnen aufgenommen, welche in die Homepage gestellt waren und die euch anzubieten ich mir erlaubt habe, als quasi Veranstalter der Donnerstage.

Wir sind eine kleine Gruppe, doch die Größe einer Übungsgemeinschaft sagt nicht unbedingt etwas über der Qualität der Praxis aus, für diese Behauptung gäbe es genügend sie unterstützende Beispiele. Weil wir keinen gemeinsamen Meister haben, spreche ich eher nicht von unserer „Sangha“.

Jeder und jede von uns bemüht sich nach eigenen Kräften zu praktizieren. Ich merke bei mir: Häufen sich Tage ohne Zazen, fehlt etwas, und das nächste Zazen verläuft erst einmal unkonzentrierter. Es fällt nicht ganz leicht, die Worte des 2008 verstorbenen Hauptabts des Hauptklosters Eiheiji/Japan anzunehmen: „Zazen ist das Wichtigste [im Leben]“ Oder die von Nakagawa Roshi, Abt in Fumonji Eisenbuch: „Zazen ist Leben“ Die Worte sind eine Herausforderung für uns, vom Absoluten her gesprochen, von „dort“, wohin wir uns spirituell entwickeln sollen, und wo wir ganz werden, Mensch werden sollen.

Aus dem Zazen heraus wissen wir, was wir tun sollen. Unsere Probleme, individuell und kollektiv, sie bleiben, jedoch gelingt es uns immer besser, anders mit ihnen umzugehen. Unser Handeln ergibt sich aus der Einsicht, dass alle „Dinge“ verbunden sind und wir von einem nur von unserem Ego gesteuerten Wollen und Nicht-Wollen loslassen sollen. So tun wir, was in rechter Weise getan werden soll.

Ich freue mich darauf, wenn der kleine Zendo im Mühldorfer Weg wieder Mitübende bekommt, der Zendo wird sich auch freuen. Hoffentlich können wir bald wieder zusammen praktizieren.

Wie ich euch schon mitgeteilt habe, möchte ich Ende Januar meine Whats-App löschen, damit verbunden ist allerdings auch das Löschen der Gruppe namens Ichi-An. Ich werde euch über Mail erreichen können und ihr mich auch auf diese Weise.

Ich wünsche euch alles Gute und: Xund bleim!

Euer Manfred

Wie meditieren?

Es gibt viele Arten der Meditation. Hier soll es um die Praxis des Zazen gehen.
„Zen wirklich zu erfahren bedeutet, in Zazen zu sitzen. (…) Löst euch von allen Bindungen und lasst die zehntausend Dinge des Alltags ruhen. Denkt nicht über recht und unrecht nach. Hier geht es weder um den Geist oder das Bewusstsein noch um Gedanken oder Anschauungen. Versucht nicht Buddha zu werden. (…) Beim Zazen sollt ihr das Kesa tragen und ein rundes Kissen benutzen. Das Kissen liegt nicht ganz unter dem Gesäß, es sollte von der Mitte ab nach hinten frei herausragen. Dadurch befindet sich die Unterlage unter den gekreuzten Beinen und das Kissen unter dem Rückgrat. (…) Gewand und Kesa sollten locker und doch ordentlich liegen. Legt die rechte Hand auf den linken Fuß und die linke Hand in die rechte Hand. Die beiden Daumenspitzen stützen sich leicht aneinander. Die beiden Hände ruhen auf diese Weise nahe am Körper. Die beiden sich berührenden Daumenspitzen sollten sich vor dem Nabel befinden. Sitzt dann aufrecht in der rechten Körperhaltung, ohne euch nach rechts oder links zu neigen oder euch nach vorn oder hinten zu beugen. Es ist wichtig, dass die Ohren und die Schultern, die Nasse und der Nabel eine gerade senkrechte Linie bilden. Die Zunge liegt am Gaumen an. Atmet durch die Nase. Die Lippen und Zähne berühren sich. Haltet die Augen offen, aber weder zu weit noch zu schmal. (…) Wenn ihr still und unbewegt sitzt, denkt aus dem Grund des Nicht-Denkens. Wie kann man aus dem Grund des Nicht-Denkens denken? Es ist jenseits des Denkens. Dies ist die wahre Kunst beim Zazen. Zazen bedeutet nicht, Zen-Konzentration zu erlernen, es ist vielmehr das Dharma-Tor des Friedens und der Freude.“

Dies schreibt Dogen Zenji (1200 – 1253), einer der größten Zenmeister überhaupt, in seinem Hauptwerk „Shobogenzo“ im Kapitel „Zazengi“ – Anleitung zum Zazen“ (dt. Übersetzung von G. Ritsunen Linnebach, Kristkeitz Verlag). Wir erkennen die Bedeutung der rechten Körperhaltung beim Zazen. Gleiten wir in die Gedankenwelt ab und bemerken dies, so genügt nach meiner Erfahrung oft ein bloßes Aufrichten des Oberkörpers und Strecken des Kopfes, um zum „Nicht-Denken“ zurückzufinden. Was bedeutet Nicht-Denken? Wir denken zwar, aber wir folgen nicht dem Gedankenstrom und: Wir erkennen unsere Gedanken als Gedanken! Wir sind uns des Atmens gewahr und „überlassen den Atem dem Atem“, wie die Meister sagen. Dabei sind wir frei davon, dieses Nicht-Denken mit unserem Ich erzeugen zu wollen, auch das meint Dogen mit seinem Wort: „Versucht nicht, Buddha zu werden!“

In wunderbar konkreter Weise beschreibt Zenmeisterin Doris Zölls (Myō-en An), worum es geht:

„Sitzen wir in Zazen und versuchen wir, uns gut zu konzentrieren, merken wir, wie wir immer wieder abschweifen. Wir sammeln uns wieder und versuchen, die Aufmerksamkeit auf den Atem zu lenken, und erleben, wie wir wieder abgelenkt werden. Immer und immer wieder gehen wir wieder zurück auf unseren Fokus. Das ist die Übung. Auch wenn sie uns noch so unzulänglich erscheint, ist das die Übung, immer wieder zurückkommen in den Augenblick, nichts mehr zu wollen, nichts mehr zu wünschen. (…) Wir können uns nicht befehlen, ab jetzt alle Wünsche einfach aufzugeben. Das funktioniert nicht, denn dieses Aufgeben ist eine existenzielle Sache. Nichts mehr zu wollen heißt nicht, ich will nichts mehr wollen. Da ist immer noch ein Wollen da, nämlich ein Nicht-Wollen. So funktioniert das nicht; nichts mehr zu wollen ist ein Erleben, in dem alles aufgegeben wird, da mein Ich nicht mehr die Kraft hat, etwas zu wollen. Aber das ist die Schwierigkeit, denn wer möchte schon freiwillig am Ende sein. Wir möchten nicht mit leeren Händen dastehen. Wir wollen etwas schaffen, etwas erreichen und wenn es das Nicht-Erreichen sein soll. Alles aufzugeben fühlt sich an, wie total zu versagen, nichts mehr zu können. Kein Ich kann das machen, es stellt sich ein.

Als ich das erste Mal Zazen praktizierte, war das für mich eine Katastrophe. An der weißen Wand, vor der ich saß, tauchte alles auf, wo mein Ich versagt hat. Als ich später wieder in Zazen saß, war mein ganzes Ansinnen darauf gerichtet, dass diese Bilder nicht mehr aufstiegen. Ich konzentrierte mich so sehr, nichts aufkommen zu lassen. Diese scharfe Aufmerksamkeit machte alle Gedanken zunichte und ich konnte die Einheit von allem erleben. Dieses Erleben ist kein Wunderwerk, es ist die Übung der Aufmerksamkeit, die lange genug gehalten wird und sich dann in ein Gewahrsein verwandelt.

Damals war es für mich existenziell, mich so zu konzentrieren. Ich wollte nicht mehr diese Sicht meiner selbst, meine Schattenseiten erleben. Das war der Ansporn. Ich habe erlebt: Können wir die Konzentration halten, eröffnet sich auf einmal eine Welt, zu der wir sonst keinen Zugang haben.

Haben wir einen Freiraum, schieben sich viele Widerstände zwischen die Übung und uns. Mit einem gewissen Druck ist es fast leichter.

Einen solchen Druck aufzubauen, unter dem wir weder ein noch aus können, ist eigentlich ein Sesshin. Es hat eine enge Struktur, nicht, weil wir es nicht lockerer machen könnten, doch es gäbe nicht den Druck, der uns in die se Konzentration zwingt, dabeizubleiben. Ein Sesshin ist so eng gesetzt, dass sehr schnell die Widerstände hochkommen. Sie kennenzulernen, sie durchzusitzen und auszusitzen, das ist unsere Übung.“ (aus: Doris Zölls: Mumonkan. 2019, S. 228 f.)

Wenn wir beim Sitzen Rückschau auf den vergangenen Tag halten, wenn wir Pläne für morgen machen, ein Problem rational durchdenken in der wunderbaren Stille, dann machen wir gar kein Zazen! Wir vergeuden nur Zeit für Zazen, auch wenn wir vielleicht danach das Gestern klarer sehen. Sicher nicht klarer aber werden uns dabei Grundfragen des Daseins als Menschen: „Wer bin ich, wozu lebe ich, was tue ich, was bedeutet mein Tod …“ (Nakagawa Roshi, Abt des Zenkloster Eisenbuch: Zen-weil wir Menschen sind, S. 55)

Warum meditieren?                                           von Ichido

Es gibt viele Arten der Meditation. Sie alle haben den Sinn, unseren Geist auf eine Bewusstseinsebene zu heben, die über das gewöhnliche Alltagsbewusstsein hinausgeht. Dadurch sollen wir Antworten auf Fragen finden, die unser eigenes Leben im Kern treffen:

Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu lebe ich überhaupt? Warum lebe ich so und nicht anders?

Meditation kann uns viel geben: Sie beruhigt den Geist, lässt uns gelassener werden gegenüber Problemen oder vermeintlichen Problemen (Mark Twain: Ich habe schon viele Probleme durchgemacht, von denen einige tatsächlich eingetreten sind) und führt im Laufe der Zeit zu einem klareren Blick auf die Dinge des Lebens.

Wenn wir uns jedoch mit den erwähnten existenziellen Fragen beschäftigen wollen, bewegen wir uns in der spirituellen Ebene. Wir haben ein Bedürfnis verspürt, uns spirituell weiter zu entwickeln, um uns diesen Fragen zu stellen. Wir spüren: Mit unserem gewöhnlichen Denken drehen wir uns im Kreis, drehen uns vor allem um unser schier unbezwingbares Ego-Ich, das uns so viele Probleme schafft und das wir aber um jeden Preis schützen wollen. Wovor wollen wir es schützen? Wir wollen unsere liebgewonnenen Konzepte des Daseins, mit denen wir uns sicher fühlen, behalten. Wir schotten uns gerne ab vor Erschütterungen unseres Weltbildes, die nicht ausbleiben, wenn wir uns der Spiritualität öffnen, und die unser Ego bedrohen würden.

Doch mögen wir in unserem Leben einen subtilen Drang hin zur spirituellen Ebene fühlen, der zu einem Entschluss reifen kann, einen spirituellen Übungsweg zu versuchen. Wenn wir unser Bewusstsein erweitern wollen, brauchen wir einen der vielen authentischen Übungswege. Aus spiritueller Sicht haben wir die Aufgabe im Leben, uns selbst ganz zum Ausdruck zu bringen, wie wir vom Leben gemeint sind; die Meisterinnen und Meister sprechen von der dritten Geburt nach der ersten, leiblichen und der zweiten, durch Sozialisation erworbenen Geburt. Jeder dieser Übungs-Wege soll unser Alltagsleben einschließen, soll nichts Abgehobenes sein. Darüber hinaus: Wir brauchen einen Lehrer oder eine Lehrerin, die den Weg ganz und gar verkörpern und uns so führen können. Kern dieses Weges ist die Meditation, im Zen ist dies das Zazen. Von dem soll hier nun die Rede sein.

Wenn wir Jahre geübt haben, mag das tägliche Zazen zur Gewohnheit und zu einem tiefen Bedürfnis geworden sein. So wie wir jeden Morgen Zähne putzen und das Haar in Ordnung bringen, so setzen wir uns zum Zazen und gehen in der Stille in den Tag. Übt man regelmäßig und ernsthaft, wird man nach mehr oder weniger Jahren eine Veränderung der eigenen Person wahrnehmen können. Das Wichtigste ist, weiterzumachen, wenn wir in Zeiten geraten, in denen wir meinen, keine Fortschritte zu machen, meinen, man sei für den Zen-Weg nicht geeignet oder auch meinen, keine Zeit zu haben. Natürlich müssen wir nach einiger Zeit ehrlich prüfen, ob wir den Zen-Weg gehen sollen – oder zu einer anderen Form der spirituellen Übung wechseln. „Fortschritte“ sind nicht Thema des Zen-Weges (sie kommen von selbst und ungerufen). Zeit haben wir umso mehr, je ernsthafter wir üben.

Lassen wir Meister und Meisterinnen sprechen zu der Frage: Warum sollen wir Zazen machen?

„Die Zazen-Praxis lässt sich umschreiben als ein Prozess des ´Aufwachens in sich selbst zu sich selbst´; Zazen ist das Wach-Werden dafür, dass diese Welt mit all ihren Problemen in uns selbst existiert. Dieses Aufwachen ist aber zugleich nichts anderes als das Licht in uns selbst, mit dem wir unseren eigenen Lebensweg sehen können. (…) Eine Weile Zazen praktizieren, so lange, bis alles, was wir gerade als Aufgabe mit uns herumschleppen, klar wird: Das ist Licht im Leben, Weisheit, prajna.
(Fumon S. Nakagawa Roshi: Zen – weil wir Menschen sind. S. 56 f.
Nakagawa Roshi ist Abt des Zenklosters Daihizan Fumonji in Eisenbuch)

„Dabei handelt es sich [beim Zazen] nicht um eine Meditation, in der irgendeine Kontemplationsmethode benutzt wird. Es geht nicht darum, in unserem Kopf etwas zu erfinden, was in Wirklichkeit gar nicht existiert. Die Vergänglichkeit ist wahrhaftig die Wirklichkeit, die sich haargenau vor unseren Augen abspielt. (…) Morgens geboren, abends gestorben, jemanden, den wir gestern sahen, gibt es nicht mehr – das sind die Tatsachen, die wir mit unseren eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören. Das ist es, was wir über andere sehen und hören. Wendet es auf euch selbst an und bedenkt so die Wirklichkeit.“

„Viele Leute können diese profane Welt nicht verlassen. Das kommt daher, dass sie scheinbar an sich selber haften; in Wirklichkeit denken sie gar nicht an sich selber. Das heißt, sie denken nicht weit genug. Es kommt auch daher, dass sie noch keine guten Lehrer oder Freunde getroffen haben.“
(Eihei Dogen Zenji: Shobogenzo Zuimonki. S 88.  *1200 +1253, Begründer der Zen-Soto-Schule und einer der größten Zen-Meister der Geschichte)

„Darum ist Zen Friedensarbeit, Entwicklungsarbeit für uns und die Menschheit. Das ist ohne jedes elitäre Bewusstsein und ohne jede Arroganz gesagt. Es ist das erste Gelübde, alle Lebewesen zu retten, das aus dieser Erfahrung aufbricht. Das hat nichts mit Bekehrung, Predigen, Überzeugen zu tun, sondern mit dem ganz konkreten Leben. Mein Verhalten wirkt auf alle. Wir gehören zusammen wie die Maschen eines Netzes. (…) Wir wirken durch unser Sosein.“
Pater Willigis Jäger, Zen-Meister, u.a.: Zen im 21. Jahrhundert. 2009, S. 31)

„Wir sind Experten darin, und Gedanken über unser Leben zu machen. Aber wir sind keine Experten darin, unser Leben einfach zu sein, unser Schmerz und unsere Freude, unsere Niederlagen und Siege zu sein. Es geht in unserem Leben darum, heil zu werden für das Leben. Das bedeutet, von dem Schmerz unseres persönlichen, abgetrennte, gefesselten `Ich will` zur Offenheit hin zu gelangen. Der Sinn unseres Lebens ist es, die Offenheit selbst zu sein, und das ist Freude. Und zur Freude gehört Leiden, Glück, alles, was ist.“
(Charlotte Joko Beck, Zen-Meisterin: Einfach Zen. 20011, Klappentext Rückseite)

„Wohin du auch blickst, es gibt nur dich selbst. Es gibt nichts, das du nicht selbst wärst. ´Hilf mir mit meiner Faulheit! Nimm mir die Schmerzen ab!´ So funktioniert das nicht. Samadhi [etwa: Sammlung des Geistes] bedeutet, du selbst und nur du selbst zu sein. Das ist ´der Geist, der von selbst rein und klar ist´. Nur im Zazen kannst du du selbst und nur du selbst sein. Außerhalb von Zazen versuchst du ständig, besser als die andern zu sein, mehr Spaß zu haben als die andern. Jeder einzelne von uns wird gemeinsam mit der Welt geboren und stirbt gemeinsam mit der Welt. Denn jeder trägt seine eigene, ganz persönliche Welt in sich.“

„Das Beste ist, einfach Zazen zu sitzen. Was auch immer du sonst tust, meistens wirst du doch nur vom Teufel dazu verführt. Massenpsychologie ist eine seltsame Sache. Wenn du keine Ahnung hast, worum es geht, solltest du einfach ruhig sein. Stattdessen hängst du dich an die andern, die auch keine Ahnung haben. (…) Du tust alles, wofür die Leute dich loben. Du läufst denen nach, die gelobt werden. Nie bist du du selbst.“
(Kodo Sawaki Roshi, 1880 – 1965: An Dich. 2002, S.11 und S. 13)

„Eines Tages beschwerte ich mich bei Suzuki Roshi über die Leute, mit denen ich zusammenarbeitete. Er hörte mir aufmerksam zu. Schließlich sagte er: `Wenn du der Tugend begegnen willst, musst du einen ruhigen Geist haben`.“
(Shunryu Suzuki Roshi: Eine Ecke dieser Welt erhellen. (Anekdotensammlung) 2001, S. 20)

„Dogen Zenji sagt im Buch Gyoji des Shobogenzo: `Die Praxis des Weges (Zazen-Praxis) ist kein Ort den die Weltleute lieben, aber sie ist die echte Heimat für alle`.
Wie kann ein Mensch, der die eigene Heimat in sich selbst verloren hat, auf dem Lebensweg richtig handeln? Leben wir aber in der echten Heimat der eigenen Existenz, so fehlt uns nichts; dann können wir bereit werden, uns der Aufgabe zu stellen, die persönlichen und die allgemeinen Probleme zu lösen. Die Praxis des Zazen erweckt uns zur Grund-Ursache des Elends dieser Welt. Das Zazen ist nicht nur die Verwirklichung des wahren Selbst in uns selbst, sondern auch die Weisheit, prajna, an sich, das Licht im Leben zum Leben.
(Fumon S. Nakagawa Roshi: Lebendige Lehre. Zen-Zentrum Eisenbuch, 2000, S. 11f.)

„Die vielen Informationen von außen führen auch zu viel Entfremdung. Wenn wir die Informationen einmal bewusst weglassen und uns stattdessen mit uns selbst beschäftigen, da fragen wir nicht mehr: Was ist Zen? Oder: Was ist Buddhismus? Dann stellen wir die Frage: Wer bin ich, was bin ich? Wir fragen nicht mehr mit Worten, sondern werden selber zur Frage. Dann sind wir im Körper und im Geist aufrecht.“
Fumon S. Nakagawa Roshi: Zen-Dynamik. Zen-Zentrum Eisenbuch 2006, S. 33)

„Gute Freunde und hervorragende Lehrer –
bleib ihnen nah!
Reichtum und Macht sind vergängliche Träume,
aber der Duft weiser Worte währt ewig.“
(Meister Ryokan, 1758 – 1831: Alle Dinge sind im Herzen. 1999, S. 45

„Es ist ein großer Fehler zu glauben, dass der beste Weg, euch selbst zum Ausdruck zu bringen, darin besteht zu tun, was immer ihr wollt, euch zu verhalten, wie es euch gefällt. Das bedeutet nicht, euch selbst zum Ausdruck zu bringen. Wenn ihr genau wisst, was es zu tun gilt und es dann tut, dann könnt ihr euch selbst ganz zum Ausdruck bringen.“

„Wenn ihr fähig seid zu sitzen, zu erfahren, was Shikantaza [Zazen] ist, dann wird der Sinn eures Lebens völlig anders sein. Ihr werdet frei sein von allem.“
(Shunryu Suzuki Roshi: Seid wie reine Seide und scharfer Stahl. 2006, S. 25 und 30)

„Im Zen geht es somit nicht um eine einseitige intellektuelle Lehre, auch nicht um einzelne, außergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen. Zen, verstanden als Lebenshaltung, erfasst und verwandelt unseren ganzen Körper. Dabei wird der Körper nicht nur als Leib gesehen. Der Körper wird verstanden als Einheit von Leib, Seele und Geist. Alles Üben erfasst sowohl unser Denken als auch unser Fühlen und unser Handeln. Die Übung macht uns zu einer authentischen Persönlichkeit.“
(Doris Zölls, Zen-Meisterin, Theologin und Pfarrerin, in: Willigis Jäger u.a.: Zen im 21. Jahrhundert. 2009, S. 112.)

„Das ist der Punkt, an dem die Spiritualität im Allgemeinen und das Zen im Besonderen vonnöten sind. Nur wenn wir die Zen-Übung wirklich ernst nehmen und bis hin zu dem Punkt führen, an dem wir erkennen, wer wir wirklich sind, haben wir eine reelle Chance diese und andere Krisen meistern zu können. Erst die Einsicht selbst befreit uns von der Notwendigkeit, Ersatzbefriedigungen suchen zu müssen, weil sie wortwörtlich mäßigend wirkt. Haben wir diese Einsicht nicht, bleiben wir unersättlich und maßlos, werden weiterhin eine Menge äußerer Ressourcen verbrauchen müssen, um fortfahren zu können, uns zu stabilisieren, oder aber (…) wir erlegen uns strengere Moralregeln auf, aus dem kollektiv verdrängten Wissen heraus, dass bisher alle solcher Regeln in der Menschheitsgeschichte umgangen worden sind und daher versagt haben.“
(Alexander Poraj, Zen-Meister, in: Willigis Jäger u.a.: Zen im 21. Jahrhundert, 2009. S. 151

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Dieser Leserbrief wurde in der Zeitschrift „Buddhismus Aktuell“ 3/2020 veröffentlicht.

Zum Beitrag von Ursula Richard „Warum…“ S. 15, Buddhismus Aktuell 3/2020 :

Digitalisierung bringe Demokratisierung und Enthierarchisierung des westlichen Buddhismus weiter voran, schreibt Ursula Richard.

Demokratisierung wird im Lexikon mit „Abbau nicht demokratisch legitimierter Herrschaft“ umschrieben. Nun ist die Meisterin einer Übungsgemeinschaft deren spiritueller „Herrscher“, sie geht auf der spirituellen Ebene voran und zeigt den Übungsweg, wie sie ihn erlernt und empfangen hat. Demokratisch legitimiert, etwa gar gewählt, ist die Meisterin allerdings nicht, dennoch folgen ihr ihre Schülerinnen und Schüler. Für ernsthaftes Üben des Weges ist Hingabe an die Meisterin wesentlich. Hingabe heißt, der Meisterin ganz und gar zu folgen, auch wenn eine Tat oder Aufforderung nicht sofort zu verstehen ist. Sie ist legitimiert, weil sie eben authentische Meisterin ist, demokratisch legitimiert kann sie nicht sein.

Hingabe erfordert jedoch immerwährende Prüfung des Lehrers: Ist er authentisch, lebt er seine Worte, oder: Neigt er zur Selbstdarstellung auf Basis eines Personenkults? Ein authentischer Dharmalehrer hat wie jeder Mensch Fehler. Nun lautet aber eine Aufforderung an die Wegübenden: Alles annehmen, was kommt. „Alles annehmen“ bedeutet jedoch: genau hinschauen und wahrnehmen, was ist. Es bedeutet nicht gutheißen. So mag sich einmal die Herausforderung zu entscheiden ergeben, ob das Verhalten des Meisters hingenommen werden kann oder nicht. Ich muss mich selbst prüfen, ob aus Hingabe etwa blindes, für sich selbst und andere verantwortungsloses Folgen geworden ist. Demokratisch bedeutet hier auch: Ich kann jederzeit gehen!

Manfred Ichido Huber

Was bedeutet „Zuflucht nehmen“?

In der Zen-Klause Ichi-An wie auch im Zenkloster Eisenbuch rezitieren wir, meist in der Pali-Sprache, die Zufluchtnahme:

Buddham saranam gacchami. Ich nehme Zuflucht zum Buddha.
Dhammam saranam gacchami. Ich nehme Zuflucht zum Dharma.
Samgham saranam gacchami. Ich nehme Zuflucht zur Sangha.  

Was bedeutet es, die „Dreifache Zuflucht“ zu nehmen? Sie ist ein Bekenntnis: Ich bekenne mich zum Buddhaweg. Was soll das heißen? Es heißt, ich praktiziere den WEG, konsequent mit ganzer Kraft nach meinen Möglichkeiten. Bin ich dann Buddhist, verrate ich da vielleicht meine christlichen Wurzeln?

In den 80-er Jahren fühlte ich immer stärker ein unbestimmtes Bedürfnis, einen spirituell entwickelten Menschen als Lehrer zu suchen. Dass ich zuerst im buddhistischen Umfeld Ausschau hielt, hat mit dem vorherigen Studium des Klassikers „Die Lehre des Buddho“ von Georg Grimm zu tun. Ich fand Zenmeister Nakagawa Fumon Roshi Ende 1990 und wurde sein Schüler, bis heute bin ich es. In der Sangha des Zenklosters Eisenbuch, dem Nakagawa Roshi als Abt vorsteht, habe ich mein spirituelles Zuhause gefunden. Hingabe an den Lehrer, an die Sangha bedeutet, in völliger Freiheit und mit Freude zu dienen und zu üben. Zuflucht zu Buddha – Dharma – Sangha nehmen bedeutet, in völliger Freiheit Zazen, Studium, Sangha-Dienst zu praktizieren. Als im christlich geprägten Kulturkreis geborener und verankerter Mensch bin ich aus der Kirche ausgetreten. Für mich bedeutet dies nur eine Abwendung von einer Institution, für mich als christlich geprägter Zen-Buddhist. Erst die vielen Teishos meines Lehrers, zahlreiche Studienkurse und Gespräche öffneten mir den Zugang zur Bibel und zu Jesus. Ich bin dankbar, Schüler eines für uns einmaligen Zenmeisters sein zu dürfen, dankbar für die Lehre des Buddha, dankbar für meine Dharma-Freunde in der Sangha.

„Ich nehme Zuflucht zum Buddha“: „Buddha“ meint hier nicht den historischen Buddha, der vor 2500 Jahren gelebt und gewirkt hat, sondern viel mehr, auf einer höheren Dimension, den kosmischen Buddha; Christen nennen diese Dimension „Gott“, Buddhisten sprechen auch vom WEG oder von der universellen Kraft.

„Ich nehme Zuflucht zum Dharma“: Dieser vielschichtige Begriff meint hier die letztendliche Wahrheit, die große Ordnung des Universums, aber auch die Lehre des Buddha in ihrer Allgemeingültigkeit. Die Lehre gilt es jenseits von Dogmatismus zu studieren und zu verwirklichen, auf dass sie uns eine kraftvolle Stütze im Leben werde.

„Ich nehme Zuflucht zur Sangha“: Sangha bedeutet hier die Gemeinschaft der WEG-Übenden, die gemeinsam den Buddhaweg gehen wollen. Sie praktizieren Zazen und Studium unter dem beschützenden und nährenden Dach der Gemeinschaft. Der Sangha anzugehören bedeutet für mich, einen kostbaren Schatz zu haben. Sich selbst lernen, sich selbst werden, dies ist der Buddhaweg. Diesen Weg gemeinsam üben, dies ist Sangha.

Das Zuflucht-Nehmen zu den „Drei Kostbarkeiten“ (Buddha-Dharma-Sangha) ist die Basis für die Praxis des Buddhaweges. Wir entwickeln eine Haltung des Sich-Selbst-Erforschens: Wer bin ich? Warum habe ich dieses und jenes getan? Wozu lebe ich überhaupt? Deshalb und ebenso entwickeln wir eine geistige Haltung weg vom Egozentrismus hin zum Geist eines Bodhisattvas. Bodhisattva wird ein erwachtes Wesen genannt, welches das eigene Heil hintanstellt und anderen Wesen hilft zu erwachen.

Das Zuflucht-Nehmen ist keine einmalige Angelegenheit, mit der man sich vor der Hölle rettet und geradewegs in den Vorhof zum Paradies springt und mit dem ich etwa den Stempel „Buddhist“ auf die Stirn gedrückt bekäme. Es ist zwar ein formeller Akt, wenn wir die Zufluchten rezitieren, doch gleichzeitig ist diese Zufluchtnahme ein immerwährender Prozess in unserem Leben, aus dem sich der WEG-Geist entwickelt. Unsere Hauptübung dabei ist das Zazen, es sitzt uns, es atmet uns und es führt uns.

Ichido, 5.11.2019

Zazen oder Text-Studium? Zazen und Text-Studium!

„Zazen allein genügt nicht“, sagt Zenmeister und Abt Nakagawa Roshi. Deshalb wird im Zenkloster Fumonji Eisenbuch auch studiert, jedoch in anderer Weise, als wir das vielleicht sonst tun mögen.

„Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen (…)“ Wie verstehen wir diese Worte des großen Zenmeisters Dogen Zenji (1200-1253) aus dem „Genjokoan“ seines Hauptwerks „Shobogenzo“? Oder: „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form.“ Oder: „Der höchste Weg ist nicht schwierig, nur abhold wählerischer Wahl.“ Was bedeuten diese Worte aus dem Herz-Sutra und dem Shinjinmei für mich, für mein Leben? Solche Texte fordern uns aufs Höchste heraus, erscheinen sie uns doch unverständlich, ja unsinnig zu sein.

Uns wird bewusst: Derartige Texte können wir mit unserem gewöhnlichen, dualistischen Denken letztendlich nicht verstehen, ihren Sinngehalt nicht ausschöpfen. Unsere Sprache, wenn wir ihren Begriffen, derer sie sich bedienen muss, verhaftet bleiben, ist nicht dazu in der Lage, die „wahre Wirklichkeit“, welche die Meister und Meisterinnen ausdrücken wollen, zu erfassen und abzubilden. Jeder Begriff ist eine oberflächliche Interpretation dieser ewigen Wahrheit, ein eingrenzender, das Ganze trennender Stempel. Die Verfasser dieser Texte versuchen, durch einen besonderen Gebrauch der Sprache, uns eingefahrene Denkmuster aufzuzeigen und das dualistische Denken (ja oder nein, entweder – oder) übersteigen zu lassen.

Wozu befassen wir uns überhaupt mit solchen Texten? Sollten wir stattdessen nicht doch lieber nur auf dem Kissen praktizieren?

Bei den Studien geht es um die Schulung des Geistes. Diese Zen-Texte können uns eine umfassendere Sicht auf uns selbst und die uns umgebende Welt, deren Teil wir ja sind, eröffnen. Sie haben die Kraft, so hören wir von den Meistern, unser dualistisches Denken zu erschüttern und zusammen mit unserer konkreten spirituellen Praxis uns selbst als Teil des Großen Ganzen in seiner unerschöpflichen Dynamik zu erfahren. Wir fragen uns nicht: Habe ich gut philosophiert? Habe ich mein Wissen vermehrt? Sondern: Hat dieser Text etwas mit mir selbst, mit meinem Leben zu tun? Kann ich diese Worte annehmen? Was bedeuten sie für mich, für meinen Alltag? Dies ist die Herangehensweise bei den Studienkursen im Zenkloster Daihizan Fumonji in Eisenbuch.

Durch unsere Praxis auf dem Kissen verdauen wir die Worte der Meisterinnen und Meister, und so können wir Stück für Stück tiefer ihren Sinn durchdringen. Vielleicht entfährt uns nach Jahren, wenn wir erneut einen Satz des Genjokoans lesen, ein befreiendes „Ach so!“. Wir haben verstanden, endlich, mit dem Herzen und nicht mit dem Kopf.

Schulung des Geistes bedeutet auch, konkreter: Durch Studium – zusammen mit der Praxis – entwickeln wir mit den Jahren eine Klarheit des Geistes. Sie lässt uns unsere Mitmenschen besser verstehen, uns selbst besser verstehen, alle Wesen respektieren. Wir sehen unser eigenes und das Leiden in der Welt und entwickeln Mitgefühl, vielleicht erfahren wir die universelle, alles umfassende Liebe. Wir können aus tiefstem Herzen danken, am Leben sein zu dürfen. Wir können die Worte annehmen und verstehen, wenn wir lesen: „Möge ich wenig Ansprüche haben. Möge ich wissen, dass alles da ist, was ich brauche.“ (14. und 15. Shila der Fumonji-Sangha).

Mögen unsere Bemühungen Früchte tragen.

Ichido, Mai 20019

Was ist ZEN?                                                von Ichido

Antworten hierauf können sich recht unterschiedlich anhören, denn „Zen“ lässt sich nicht definieren wie „Tisch, „Politik“ oder „Impressionismus“. Wohl findet man im Lexikon Aussagen zum Begriff „Zen“, und dies sind hilfreiche Fingerzeige, doch erfasst werden, was Zen ist, kann damit nicht – denn nicht einmal ein „Begriff“ ist Zen.

Was ist Zen nicht? Es ist keine Religion im Sinne eines kodifizierten Lehrgebäudes, etwa mit Katechismus. Es ist weder eine Therapie noch eine Methode, um ein an einem Endpunkt liegendes Ziel zu erreichen, noch eine bloße Philosophie. Zen ist keiner religiösen Tradition unterzuordnen, nicht einmal der buddhistischen, obschon Zen – in China im 6./7. Jahrhundert – auf dem Boden der Lehre des Buddha entstanden ist und gewöhnlich als einer der 3 Hauptzweige des Buddhismus (Theravada, Tibetischer Buddhismus, Zen) gesehen wird.

Zen ist mehr: Es ist ein Wort für die Große Ordnung, für die universelle Wurzel der Spiritualität, die von uns erfahren werden soll und unser ganzes Sein umfasst. Das Zazen (oft übersetzt mit „Sitzen in der Versenkung“) ist die Hauptpraxis des Zen-Weges. Diese Sitzmeditation ist nicht zweckgerichtet auf ein zu erreichendes Ziel (Kodo Sawaki Roshi: Zen ist zu nichts nutze…). Vielmehr ist sie Ausdruck der uns eigenen „Würde des Seins“ (Nakagawa Roshi), sie aktualisiert unsere Erhabenheit und die uns innewohnende Buddha-Natur (im Christentum: Wir sind Kinder Gottes). Wir bemühen uns, sie nicht nur im Zazen, sondern auch in jedem Augenblick unseres Alltagslebens zu aktualisieren. Die Würde und Erhabenheit geht auch nicht verloren, wenn wir sie mit allerlei Fehlverhalten beflecken. Die Zen-Übung ist ein lebenslanger Weg, der Selbsterkenntnis und Klarblick, große Freude, Dankbarkeit und inneren Frieden durch sich selbst hervorbringt.

F.S. Nakagawa Roshi (Abt des Zenklosters Daihizan Fumonji in Eisenbuch) sagt so: „Im Zen geht es um die Wurzel der Existenz des Menschseins, um die Verwirklichung des Selbst, um das Aufwachen zur Vollkommenheit der eigenen Existenz im Hier und Jetzt. Dabei ist Zen beziehungsweise Zazen – das „Sitzen in Versenkung“ – kein Mittel, um etwas von uns Gewünschtes zu erreichen. Es ist vielmehr eine Vergegenwärtigung oder Realisierung der Wirklichkeit des eigenen Lebens und der gesamten Welt. Insofern ist Zen in der Tat keine Religion im herkömmlichen Sinne, und dennoch ist es tief erlebte religiöse Praxis.“ (aus: Zen – weil wir Menschen sind. S. 54)

In der Zenpraxis geht es um uns selbst. Durch uns selbst in der Praxis sollen wir uns selbst in uns selbst finden, oder: unser wahres Wesen erkennen. Der große Zenmeister Dogen Zenji (1200 – 1253) sagt: Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. … (Shobogenzo, Genjokoan). An seinem und dem Beispiel aller großen Meister können wir sehen: „Sich selbst erlernen“ bedeutet die Entwicklung von Liebe und Mitgefühl für alle Wesen. Diese Weisen haben unmittelbar erfahren, nicht abtrennbarer Teil des großen Ganzen zu sein. Mit dieser Erfahrung wirken sie in der Welt auf heilsame Weise. Sie haben mit dem ganzen Herzen erkannt: Wenn wir andere Lebewesen verletzen, verletzen wir uns selbst.

Nakagawa Roshi: „Die Zazen-Übung ist auf den Ursprung des Zen, auf den Koordinatenursprung des Buddhalehre, das heißt, auf die religiöse Dimension des Mensch-Seins überhaupt zurückzuführen. (…) Aus einer solchen Übungsweise wird eine Antwort auf die Frage auftauchen, wie wir in dieser verworrenen Zeit weiterkommen sollen. Ich sehe die Antwort in der Aufforderung zur Aufrichtigkeit bei jedem einzelnen und bei der Menschheit insgesamt. Die Wege zur Lösung der Probleme in der Welt, an einem Ort, an einer Arbeitsstelle oder in einer Familie bestehen genau darin, das eigene Selbst zu lernen und zu vertiefen – im eigenen Selbst die wahre Gestalt der heutigen verwirrten Welt und im Zazen die wahre Gestalt des eigenen Selbst zu finden.“ (aus: Die Allgemeingültigkeit der Zazen-Übung)